Wladimir Semenowitsch Poltawskij
(27. Mai 1919 – 1941)
Eine Gedenkbotschaft seines Sohnes Alexandr Wladimirowitsch Poltawskij
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(Übersetzung des russischen Transkripts)
Guten Tag, meine Damen und Herren.
Der 22. Juni 1941, dieser Tag blieb im Kopf vieler sowjetischer Bürger. Wir erlitten große Verluste in diesem Krieg, der ausbrach. Es gibt keine Familie, in der nicht ein Mensch ums Leben kam oder spurlos verschwunden ist oder Ähnliches.
Ich heiße Alexandr Wladimirowitsch Poltawskij. Ich möchte Ihnen vom Schicksal meines Vaters erzählen, Wladimir Semenowitsch Poltawskij. Er wurde am 27. Mai 1919 geboren. Im Dorf Walujewka. Das ist im Bezirk Remontnenskij in Rostow. Als der Krieg begann, diente mein Vater in der Armee. Seine Einheit war direkt an der Grenze stationiert. Laut seinen Erzählungen und Briefen sah man in den Büschen sogar Panzer und Geschütze, die alle in Richtung unserer Grenze ausgerichtet waren. Von Kriegsbeginn an befand sich mein Vater im Mittelpunkt der Geschehnisse. Seit diesem Zeitpunkt hörten wir nichts mehr von ihm. Es war unbekannt, was mit ihm passiert ist.
Nach 79 Jahren… Genauer gesagt im Oktober 2018 erhielten wir die Nachricht, dass in Pjatigorsk ein gewisser Gennadij Polubedow lebt, der sich mit der Suche nach Vermissten und Verstorbenen beschäftigt. Und dass er Informationen über meinen Vater hat. Gennadij übergab uns Kriegsgefangenenkarten, in denen vermerkt war, dass mein Vater Wladimir Semenowitsch Poltawskij am 23. Juni 1941 gefangen genommen wurde. Und erst im August 1941 wurde er in ein Kriegsgefangenenlager gebracht. Er wurde danach noch in ein anderes Lager verlegt. Und danach wurde er… an die Gestapo Nürnberg ausgeliefert. Dort befand er sich vom 21. November [wahrscheinlich 19. November 1941] vermutlich bis zum 8. Dezember. Mehr Informationen zu meinem Vater gab es auf diesen Karten nicht. Wahrscheinlich wurde er danach erschossen.
Polubedow arbeitete zusammen mit Tatjana Székely. Tatjana arbeitete direkt in der Gedenkstätte Dachau. Sie half der Gedenkstätte bei der Recherche von Dokumenten, der Entzifferung von Karten und so weiter. Durch sie fanden wir alles heraus. Tatjana teilte uns mit, dass an dem Gedenkort Hebertshausen eine Ausstellung installiert wird, mit Gedenktafeln für alle, die dort ums Leben kamen, die dort erschossen und begraben wurden.
Wir besaßen keinerlei Unterlagen. Wir hatten nur Soldatenfotos meines Vaters, sein Foto aus der Vorkriegszeit ein Foto von mir und eins von meiner Mutter. Das alles haben wir ihr zugeschickt. Mehr Informationen, Dokumente oder Briefe hatten wir nicht. Tatjana teilte uns mit, dass sie einen Antrag bei der Brester Festung gestellt hatte. Bei der Gedenkstätte Brester Heldenfestung. Sie stellte also einen Antrag, und man antwortete ihr, dass 2010 eine gewisse Raisa Semenowna Poltawskaja, die Schwester meines Vaters, dort eine Suchanfrage gestellt hatte. Wir erhielten Angaben über ihren Wohnort und ihre Telefonnummer. Wir riefen an und lernten sie kennen. So erfuhren wir genauere Details über das Leben meines Vaters. Es stellte sich heraus, dass zwei Monate vor seiner Geburt sein Vater Semen im Bürgerkrieg ums Leben kam. Seine Mutter musste ihn allein großziehen. Sie brachte noch vier weitere Kinder zur Welt. Und im Jahre 1932 verstarb seine Mutter an Typhus. Die ältesten Kinder Wladimir und Raisa gab man in ein Kinderheim. Es trug den Namen „Krasnopartizanskij“. Es befand sich auch auf dem Gelände des Großbetriebs „Krasnij Partizan“. Dort wurden sie großgezogen. Doch im Jahre 1935 wurde dieses Kinderheim und Internat aufgelöst. Man gab Wladimir einen Pass und teilte ihm eine Arbeit zu. Zu dieser Zeit gab es ein Team von Wissenschaftlern, das sich mit der Erforschung von Ressourcen in Steppengebieten befasste. Man teilte ihn dort als Sekretär ein. Seine Arbeit bestand darin, Dokumente und Berichte abzuschreiben. Er hatte eine sehr schöne Schrift. Raisa kam in ein Kinderheim namens „Woznesenskij“, in der Nähe der Stadt Elista. Das ist die Hauptstadt der Teilrepublik Kalmückien. Wladimir arbeitete dort weiter. Als das Wissenschaftlerteam seine Forschung beendete, wurde Wladimir Buchhalter in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb. In der Sowchose „Krasnij Partizan“. Dort lernte er eine Frau kennen, Agrippina Gogolewa. Sie kam aus dem Dorf Donskoje und wurde 1918 geboren. Nach einiger Zeit heirateten sie. Das war etwa im Jahre 1938. Und im Oktober 1939 wurde auch schon ich geboren.
Nach fast einem Jahr im September 1940 wurde mein Vater in die Armee einberufen. Er schrieb meiner Mutter Briefe darüber, wo er seinen Dienst leistete. Er war zuerst in der Ausbildung. Danach wurde seine Einheit nach Brest versetzt Von dort aus schrieb er weitere Briefe. Wir haben diese Briefe nicht mehr. Nur noch die Fotos. Nach dieser Zeit hörten wir nichts mehr von ihm. Während des gesamten Kriegs und auch danach erhielten wir keine Neuigkeiten. Meine Mutter hat lange Zeit auf ihn gewartet. Und erst im Jahre 1949 gab sie beim Militärkommissariat eine Suchanzeige auf. Sie erhielt die Nachricht, dass er spurlos verschwunden sei seit dem Juli 1943. Mehr Informationen gab es nicht. Ich erreichte also ein Alter von 79 Jahren, ohne etwas über meinen Vater zu wissen.
Ich bin Gennadij Polubedow und Tatjana Székely sehr dankbar für ihre harte Arbeit. Für ihre Suche. Ich danke euch von Herzen. Danke. Ich wurde zur Eröffnung des Gedenkorts eingeladen und war dort gemeinsam mit meinem Enkel. Ich war auf dem Schießplatz, auf dem mein Vater seine letzten Minuten verbracht hatte. Ich stand an dem Ort, wo womöglich seine Asche verstreut liegt. Durch diesen schrecklichen Krieg verlor unser Land mehr als 50 Millionen Menschen, Tote, Verletzte und spurlos Vermisste. Man wünscht sich, dass sich so etwas nie wiederholt.
Jedes Jahr feiern wir den 9. Mai. Das Land vergisst nicht. Und wir vergessen nicht. Wir gehen auf den Marktplatz unserer Stadt mit Porträts von Wladimir und Raisa, die am Krieg teilnahmen. Über sie habe ich ja gar nichts erzählt. Gehen wir einen Schritt zurück. Wir erfuhren, dass die Schwester meines Vaters Raisa Semenowna auch am Krieg teilgenommen hatte. Zu Beginn des Krieges schickte man sie nach Charkow. Sie war Krankenschwester. Ich habe Fotos von ihr als Unteroffizierin… Nein, als Sanitätsoffizierin. Wir erfuhren, dass Raisa Semenowna als Krankenschwester im direkten Kampfgeschehen mehr als 100 verwundete Männer gerettet hat, darunter Soldaten, Sergeanten und Offiziere. Doch im Januar 1942 wurde sie schwer verletzt durch Splitter. Sie wurde schnell ins Krankenhaus befördert und in Transbaikalien in Sicherheit gebracht. Immer noch mit Splitterresten im Körper erreichte Raisa ein Alter von 97 Jahren.
Ich möchte erwähnen, meine Damen und Herren, liebe Freunde, dass es nichts Schrecklicheres gibt als den Krieg. Bewahren wir den Frieden.
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